aus: Aachener Nachrichten, 15.10.2004
Theater 99: "Die Kunst ein Schlagzeug aufzubauen."
Dietrich Rauschtenberger begeisterte mit einem furiosen Jazz- und Kabarettprogramm.
Von unserer Mitarbeiterin Grit Schorn
Aachen. Am Wochenende gibt es in Aachen viel Kulturelles zu sehen, zu hören und zu bestaunen.
Angesichts dieser Konkurrenz hatte das Theater 99 am Samstagabend überhaupt nicht mit diesem
heftigen Andrang auf eine recht ungewöhnliche Veranstaltung gerechnet: Der Jazzmusiker und
Satiriker Dietrich Rauschtenberger gab sich und den Aachenern die Ehre. Ein für allemal räumte
er mit der "Legende" auf, der Free Jazz sei in New York erfunden worden. Und das inzwischen
älter gewordene Kind aus dem Ennepe-Ruhr-Kreis stellte immer wieder unter Beweis, dass man - so
man Rauschtenberger heißt - gleichzeitig erzählen, aufbauen und Musik machen kann. Ganz
schön motzig betritt das trommelbeladene Multitalent im Jazzer-Shirt die Bühne: "Was,
Sie sind schon hierß", begrüßt er das erstaunte Publikum eher ungnädig. Er
habe im Stau gestanden und wie, bitte sehr, solle er nun in kürzester Zeit sein Schlagzeug aufbauenß
"Das lohnt sich doch alles nicht mehr! Am besten, Sie gehen nach Hause".
( ... ) Der gelungene kabarettistische Einstand erzeugt leicht verspätet die ersten Lacher, und das fulminante Jazz-Theater
kann beginnen. Am Anfang war wohl die archaisch anmutende Schamanentrommel aus Holz, mit Kalbsfell bezogen.
Dazu gibt es eine haarsträubende Geschichte von sibirischen Jungfrauen, Stiereiern und Blut. Zwischen
BRD- und Jazz-Geschichte, zwischen deutschen Altnazi-Vaterfiguren und amerikanischen Jazz-Lichtgestalten
wie dem Saxofonisten Charlie Parker ("Bird") entwickelt der drahtige Künstler sein
"Stück für 1 Schlagzeuger und viel Percussion" (Regie: Cyrill Berndt).
Das von ihm benutzte "Pseudonym" Paul Trombeck kann und will nicht verhehlen,
dass hier viel Echtes und Biografisches auf den Tisch, vielmehr auf Becken und Schlagzeug kommt. Nebst Anekdoten
und Kabarett vom Feinsten präsentiert Rauschtenberger (s)eine, exemplarische Lebensgeschichte, die von 40 Jahren Jazz
durchdrungen ist. Die fiktiven Kumpane von einst, Dölfi Kampschulte und Hans Notenbast, lassen an den real existierenden
Peter Brötzmann denken, der sich als europäischer Free Jazz-Entwickler einen Namen machte. ( ... ) Der Mief der
Adenauerzeit wird schrill zertrommelt, und nach einer herrlichen Esoterik-Einlage mit den kupfern und golden schimmernden
Gongs schreitet der Aufbau des Schlagzeugs zügig voran. Der frühere Pädagoge erzählt, erklärt und
"bespielt" die Instrumente, die sich schließlich samt "Fußmaschine" zu
einem kompletten Schlagzeug-Ensemble zusammenfügen. Er lässt das Blech sprechen, in ebenso
zarten und verspielten Tönen wie in ekstatisch schreienden Crescendos und mit dumpfen
"Klopfzeichen". Das Publikum - gut durchmischte Altersstufen - ist hingerissen und glaubt
dem Percussion Magier aufs Wort: Natürlich haben Trombeck, Dölfi und Notenbast mit ihrer
Musik der 60er Jahre den Free Jazz "erfunden" und dabei ein Wuppertaler Turnvereinsheim in
die Luft gesprengt! Lange vor den Ami-Jazzern in New York haben sie mit tonalen und metrisch-harmonischen
Mustern radikal gebrochen! Und haben "Arbeitslager riskiert wegen Erregung öffentlicher Freiheit".
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